Das geheime Zentrum

Das geheime Zentrum

Noch heute fällt mir, wenn ich »Gold« oder »golden« denke, zuerst unser altes Transistorradio ein. Lange war es das geheime Zentrum unseres Familienlebens. Das »Stern 111« war ein edles Stück mit dunkelbraunem Holzkasten und einer schönen goldenen Blende über dem Lautsprecher und der ganzen Vorderseite. Auf dem Gold der Blende saß ein großes weißes, leicht geriffeltes Senderwählrad (nach ein paar Jahren etwas angegraut und abgegriffen) und im oberen Viertel gab es, golden eingefasst, das Fensterchen mit der Skala, auf der alle Sender und die drei Frequenzen gut lesbar waren. Weil es sich um ein sogenanntes Kofferradio handelte (hergestellt im VEB Stern-Radio Berlin), konnte man es auch unterwegs betreiben, mithilfe zweier Flachbatterien.

Mein Vater hatte das Radio 1964 in Karl-Marx-Stadt gekauft, wo er Textilmaschinenbau studierte. Er hatte in seinem vierzehnten und fünfzehnten Lebensjahr den Beruf eines Webers erlernt und als Weber gearbeitet, in Greiz, in derselben Weberei wie seine Mutter Ilse Seiler. Mutter und Sohn arbeiteten im Zweischichtsystem und nach dem Vorbild der Aktivistin Frida Hockauf: »So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben«, hatte diese Weberin aus Zittau im September 1953 gesagt und versprochen, bis Jahresende 45 Meter Stoff mehr als geplant zu weben und zwar in bester Qualität: 10 Meter zu Ehren des Weltgewerkschaftskongresses in Wien, 15 Meter zu Ehren der »Deutsch-Sowjetische Freundschaft« und die restlichen 20 Meter zu Ehren des Staatsratsvorsitzenden Wilhelm Pieck …

Die Textilindustrie war, wie man so sagt, die Lebensader dieser Ostthüringer Gegend, später auch der Uranbergbau (wo der Vater meines Vaters »gutes Geld« verdiente), das spaltbare Material für die russischen Atombomben kam einmal aus unserer Gegend. Um dem elektrischen Webstuhl zu entfliehen, ging mein Vater nach seinem achtzehnten Geburtstag freiwillig für zwei Jahre zum Militär. Eine offizielle Armee und eine Wehrpflicht gab es damals noch nicht in Ostdeutschland, die Verträge mit den Siegermächten erlaubten es nicht. Von seinem Sold als Gefreiter kaufte er sich ein Motorrad (eine ES 250), mit dem er am Tag seiner Entlassung nach Jena fuhr, um sich bei der Arbeiter- und Bauernfakultät zu bewerben, wo er zuerst die zehnte Klasse und dann das Abitur nachholte, um schließlich, in Karl-Marx-Stadt (heute heißt die Stadt wieder Chemnitz), Textilmaschinenbau zu studieren. Ende der sechziger Jahre wechselte er von der Textilmaschine an die ersten Großcomputer (die tatsächlich groß waren, so groß wie Häuser), avancierte zum Systemprogrammierer und unterrichtete Computersprachen – der Arbeiter- und Bauernstaat machte es möglich.

Aber zurück zum Radio mit der goldenen Blende: Das »Stern 111« war die erste gemeinsame Anschaffung meiner Eltern und überhaupt die erste Technik in unserer Wohnung, es kostete stolze 380 Mark. Zur Feier dieses Tages holte meine Mutter meinen Vater vom Bahnhof in Gera ab. Wir wohnten auf dem Dorf, etwa 12 Kilometer von der Stadt entfernt. Busse fuhren am Abend nicht mehr, also kam meine Mutter über die Felder, mit mir im Kinderwagen, wie sie es heute erzählt: »Auch du warst dabei, damals«. 1964 war ich ein Jahr alt, meine Mutter schob den Kinderwagen, mein Vater hielt das Kofferradio im Arm – ich stelle mir vor, wie langsam die Dämmerung hereinbrach über der Ostthüringer Hügellandschaft und das Licht aus dem Radio das aufmerksame Gesicht meines Vaters illuminierte.

Später war das goldene Radio immer dabei. Morgens auf dem Frühstückstisch, abends in der Stube, auch im Urlaub, am Strand. Als 1973 Walter Ulbricht starb und Honecker vollends die Macht übernahm, waren wir gerade im Sommerurlaub an der Ostsee – die ganze Nacht über hörte mein Vater die Berichte im RIAS (RIAS: »Rundfunk im amerikanischen Sektor«, jede Nachrichtensendung begann mit dem Slogan „RIAS Berlin – eine freie Stimme der freien Welt«), sehr leise und der Goldschatz des Radios verborgen unter dem Kissen. Das Radio strukturierte unseren Tag: Um bestimmte Abend-Sendungen nicht zu versäumen, galt es, sich zu beeilen; die Küche musste vorher »gemacht sein«, wie es meine Mutter ausdrückte, erst das Geschirr (abwaschen, abtrocknen), dann »eine schöne Sendung« im Radio. Bei unseren Sonntagsausflügen vom Dorf auf der kleinen gepflasterten Landstraße bis zur zwei Kilometer entfernten Autobahn saß ich im Bollerwagen (im Winter auf dem Schlitten), ein Kissen im Rücken und auf den Knien eine Decke und das »Stern 111«. An der Rückseite des Holzgehäuses gab es eine kleine Klappe, die ab und zu geöffnet werden musste, um zwei neue Flachbatterien einzulegen. Das Wechseln der Batterien war eine heilige Handlung, auch später noch, als meine Eltern sich ihre erste Stereoanlage kauften (»eine Rema Andante«) und das Kofferradio in meinen alleinigen Besitz überging. »Stern 111« konnte jetzt bei mir einziehen, ins Kinderzimmer.

Von den drei Frequenzbereichen interessierte mich vor allem die Kurzwelle, weil ich dort auf jene seltsamen Geräusche stieß, für die es keine andere Erklärung geben konnte als die, dass die Außerirdischen versuchten, Kontakt mit mir aufzunehmen. Von nun an suchte ich an jedem Abend den Äther ab, millimeterweise, das weiße Senderwählrad zwischen den Fingern, so lange, bis die Botschaft ertönte. Ab und zu verstummte das Funken der Außerirdischen, was ich als Aufforderung begriff: »Hallo, hallo, hier bin ich, bitte kommen«, flüsterte ich ins Radio. »Ich lebe auf der Erde, in Gera-Langenberg, Charlottenburgweg 24, könnt ihr mich hören? Over.« Mein Mund berührte die kühle, goldmetallene Lautsprecherabdeckung und hinterließ einen feuchten Abdruck. Es kribbelte an den Lippen; die Außerirdischen hatten wieder zu funken begonnen, und ich funkte zurück: »Hallo, hallo, wo seid ihr, wie heißt euer Planet? Falls ihr noch einen Menschen braucht, nachts bin ich immer ganz allein in meinem Zimmer. Over.«

Das Seltsamste beim Radio-Funken: Das Geräusch der eigenen Stimme. Ihr Wispern zwischen den Lippen, das Zischeln, das Summen unter der Schädeldecke, das Raunzen zwischen den Augen. All das Fremde in ihrem Klang. Als rühre sich tief unten, am Grund der eigenen Stimme, ein unbekanntes, allmächtiges Wesen, etwas, das nur durch weiteres unaufhörliches Flüstern beruhigt, im Zaum gehalten und am Ausbruch gehindert werde konnte. Es war das Geräusch des Todes – später nannte ich es so.

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