Irgendwohin unterwegs, im eigenen Zimmer

Irgendwohin unterwegs, im eigenen Zimmer

Plötzlich Zeit. Keine Buchpremiere, keine Lesereise. Gestern war ich im Keller, wo seit einem Jahr meine alte Stereoanlage von Sony steht, deren CD-Wechsler kaputt gegangen war – mit fünf Lieblings-CDs, die das Sony nicht mehr spielte, aber auch nicht mehr hergab (auswarf). Tatsächlich konnte man fünf CDs gleichzeitig einlegen und dann, fast wie bei einer kleinen Musicbox, per Tastendruck auf winzige orange leuchtende Knöpfchen, eine davon auswählen. Die schließlich, je nachdem, wie hoch oder tief sie gerade im CD-Wechsler lag, mit einem mehr oder weniger langwierigen, rhythmisch sehr klaren und erstaunlich angenehmen »Rattammtamm-rattammtamm-rattam« (ein Geräusch wie im Zug, als wäre man irgendwohin unterwegs, sitzend im eigenen Zimmer) in Abspielposition transportiert wurde. War die Fahrt zu Ende, kam noch ein kurzer feiner melodischer Pfiff, sehr leise und verheißungsvoll, und dann: die Musik.

Seit einem Jahr hatte ich mir für einen Tag, an dem ich »mal richtig Zeit« haben würde, wie man so sagt (und kaum daran glaubt, dass dieser Tag jemals eintreten wird) vorgenommen, die Anlage zu zerlegen und meine Lieblings-CDs zu befreien. Gestern gab es diesen Tag. Vier Kreuzschrauben auf jeder Seite und ein bisschen Gewalt, was mir auch ein wenig weh tat – über zwanzig Jahre lang hatte mich dieser silbergraue, im Dunkel orange leuchtende »HiFi-Turm« begleitet durch meine Schreibexistenz (in guten und schlechten Nächten), mit seinem Radio, seinem doppelten Kassettendeck und überraschenden Funktionen wie »Einschlafen mit Musik« .

Wirklich Umwerfendes, Bahnbrechendes ist nicht erfunden worden seitdem. Oder doch: Ich kann hinterm Haus spazieren gehen, im mittelmärkischen Kiefernwald, und zugleich über Kopfhörer die Band meines Sohnes hören (»footprint project«), die nächste Woche auf der Buchpremiere meines Romans »Stern 111« gespielt hätte. Für Jazz-Musiker, die von Life-Auftritten leben, von Festivals, Engagements in Clubs oder Bars, ist die Situation ohne Zweifel noch schwieriger als für Schriftsteller, die eventuell Auftragsarbeiten haben, die sie daheim am Schreibtisch erledigen können und es ohnehin gewöhnt sind, allein zu sein mit ihrer Arbeit. Überhaupt ist jetzt Schreibzeit. Die richtige Zeit, um heimzukehren in den Heimathafen der Gedichte. »Geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei«, rät Paul Celan in seiner Büchnerpreisrede, und: »Das Gedicht sucht, glaube ich, auch diesen Ort.«

Lutz Seiler, 18. März 2020

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 21./22.03.2020.


Bild links:
Der Wald hinter dem Haus

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